Unser BM Sebastian Täger veröffentlicht bei Facebook zum Start von 2025 einen lesenswerten Beitrag

Ist möglicherweise ein Bild von 5 Personen und Text
Unser Bürgermeister hat danach die Sternsinger empfangen. (Foto ebenfalls von seiner Fb-Seite)
                                                                                  —
LONG READ:
Der Angriff auf die Wahrheit & das Lösen politischer Probleme
Zwischen den Jahren gab es in der FAZ, etwas versteckt in der Rubrik „Bilder und Zeiten“, einen immens wichtigen Text des Politikwissenschaftlers Michael Zürn. Etwas sperrig formuliert, handelt er von der politischen Strategie des „Angriffs auf das liberale Wahrheitsregime“.
Zürn macht eine Lücke aus zwischen den 25 Prozent, die hierzulande AfD/BSW wählen, und den über 50 Prozent, die in den USA Trump gewählt haben. Wie ist es gelungen, Mehrheiten zu mobilisieren, obwohl viele Trump-Wähler dadurch offenkundig Nachteile erfahren werden? „Diese Wahlentscheidungen verlassen teilweise die Logik rationaler Wahlentscheidungen, auf denen alle (…) Erklärungen letztlich beruhen.“
Der Wahl voraus ging nämlich eine „beispiellose Kampagne“, die, „gespickt mit Absurditäten und Angriffen auf alle Instanzen, eine Anhängerschaft schuf, deren Treue durch nichts zu erschüttern war – nicht durch unzählige Nachweise von falschen Aussagen und auch nicht durch strafrechtliche Urteile.“
Wovon Zürn hier spricht, ist das Verhältnis von „Wahrheit und Demokratie“, mit dem sich bereits Hannah Arendt eingehend beschäftigt hatte. Ihr Begriff von den „Tatsachenwahrheiten“, an denen sich Politik niemals vergehen dürfe, muss mittlerweile als zerstört angesehen werden. Trump hat wiederholt eindrücklich gezeigt, dass auch Tatsachen – oder die Frage, ob es sich überhaupt um Tatsachen handelt – zur Debatte stehen. Es ist wie aus dem Lehrbuch der KGB-Propaganda, die ihre Entsprechung in der Wahrheitszersetzung durch Göbbels hatte: „Alles ist möglich, nichts ist wahr“.
Wie konnte es so weit kommen? Im Folgenden möchte ich einige Bestandteile der Strategie, die Zürn in seinem Text entwickelt, stichwortartig darlegen, und sie dann um einige Stichpunkte ergänzen, die ich selbst speziell für die deutsche Situation gesammelt habe:
BULLSHITTING (nach Harry Frankfurt)
Bullshitting, oder „Humbug“, wie Zürn es nennt, ist eine krassere Form der Unwahrheit als die Lüge: „Während Lügen bewusste Unwahrheiten sind, die die Existenz der Wahrheit respektieren (indem der Lügner sie zu verbergen versucht), untergräbt Humbug die Grundlage der Wahrheit selbst. Bullshitting schafft ein Umfeld, in dem die Unterscheidung zwischen Wahrheit und Unwahrheit irrelevant wird. Dies hat schwerwiegende Folgen für den öffentlichen Diskurs.“
Es ist dies der eingangs erwähnte Angriff auf das liberale Wahrheitsregime, der mit der Wiederwahl Trumps als geglückt gelten darf. Noch sperriger kann man von einem Angriff auf die „Funktionsvoraussetzungen der liberalen sozialen Epistemologie“ sprechen. Dieser Angriff ist bereits ein paar Jahre länger im Gange. Seine Bestandteile sind unter anderem:
DER CONWAY-MOVE
Die berühmte Aussage von Trumps Sprecherin Kellyanne Conway von den „alternativen Fakten“, was die Teilnehmendenzahlen bei Trumps erster Amtseinführung angeht. Spätestens da hatten sich Arendts Tatsachenwahrheiten dann auch erledigt.
DER MARLBORO-MOVE
Zum Thema Unterminierung der Wissenschaft: „Das Vorbild ist die Tabakindustrie, die auf den wachsenden Konsens zur Schädlichkeit des Rauchens in der Medizin mit der Mobilisierung von Experten reagierte, die im Kern nur ein permanenten «Da gibt es unterschiedliche Meinungen» produzierte.“ Heute wird dieser Move auch gern von Teilen der Ölindustrie zum Thema Klimawandel genutzt.
DER «I DID MY OWN RESEARCH»-MOVE
„Es geht dabei um die freihändige Zusammenstellung der wissenschaftlichen Bausteine durch selbst ernannte Experten, die innerhalb des Wissenschaftssystems nicht als epistemische Autorität anerkannt sind.“ Besonders stark trat dieser Move in der Corona-Pandemie auf.
DER BANNON-MOVE (nach dem ehemaligen Trump-Berater Steve Bannon)
Schlicht und einfach geht es darum: „Flood the zone with shit.“ In den Worten Michael Zürns: „Die Öffentlichkeit soll demnach mit allem möglichen Unsinn, absurden Informationen, Faktenverdrehungen und Hetze überladen werden.“ Wer die letzten Jahre am öffentlichen Diskurs teilgenommen hat, wird sagen können: Das klappt erstaunlich gut.
In Deutschland ist die Situation nicht ganz so zugespitzt wie in den USA. Wir befinden uns aber auf dem besten Weg dorthin. Damit es überhaupt möglich wurde, in einem Land wie Deutschland Rechtsradikale wieder salonfähig zu machen, war eine Menge Arbeit nötig. Es handelt sich um einen wirklich voraussetzungsreichen Vorgang. Zunächst einmal musste ordentlich Verwirrung gestiftet werden.
Umberto Eco hatte bereits 1995 davor gewarnt:
„Es wäre so bequem für uns, wenn jemand auf die Bühne der Welt träte und erklärte: «Ich will ein zweites Auschwitz (…)!» Das Leben ist nicht so einfach. Der Ur-Faschismus kann in seinen unschuldigsten Gewändern daherkommen. Es ist unsere Pflicht, ihn zu entlarven und mit dem Finger auf jede seiner neuen Formen zu zeigen – jeden Tag, überall in der Welt.“
Und da natürlich auch die Rechtsradikalen wussten, dass die Demokratien nach 1945 wirklich wachsam sein wollen, spielten sie beharrlich das long game.
BEGRIFFE ENTWERTEN:
Vernichtung, Holocaust, Genozid, deutsche Opfer, zweierlei Untergänge, der des Deutschen Reichs und der des europäischen Judentums, schiefe Vergleiche, der kausale Nexus, Relativierungen, Aufrechnungen. Viele Jahre wurde experimentiert, provoziert und der Diskursraum nach rechts verschoben. Vernichtung der Deutschen, Bomben-Holocaust auf Dresden, Genozid am deutschen Volkskörper – der Fantasie waren da keine Grenzen gesetzt. Mag das meiste auch in Schmuddelecken publiziert worden sein, früher Treffer gelangen etwa in Jörg Friedrichs Buch „Der Brand“ (2003), wo der Holocaust mit dem Bombenkrieg auf Deutschland gleichgesetzt wird.
DIE SACHE MIT DER MEINUNGSFREIHEIT:
Wie gelingt es, eine permanente Ausweitung des Diskursraums nach rechts zu tarnen? Richtig, indem man in dem Moment, in dem all das geschieht, eine Debatte darüber anzettelt, dass man ja in der Öffentlichkeit „nichts mehr“ (ungestraft) sagen dürfe. Da im westlichen Kulturkreis die Vorstellung, alles werde immer schlimmer und schlechter, quasi immer Konjunktur hat, deckt sich das sogar mit der Vorstellung der meisten Menschen. Der analytische Ertrag solcher Debatten ist dürftig. Mehr als dass ein öffentliches Gespräch über den Holocaust vielleicht eine andere Feinfühligkeit erfordert als ein Gespräch über das Wetter, kommt dabei meistens nicht raus. Aber egal, während diese Debatten im verunsicherten „bürgerlichen Lager“ um sich greifen, breitet sich der rechtsradikale Bazillus ungehindert weiter aus. Wen kümmert es schon, wenn Menschen als Ungeziefer bezeichnet werden, wenn im ÖRR mal wieder jemand gegendert hat?
UMWERTUNG: DAS BÖSE IST GUT, DAS GUTE IST SCHLECHT
Was einer Machtübernahme der Rechtsradikalen regelmäßig im Weg steht, ist die lästige Moral. Als Rechtsradikaler tut man schließlich Dinge, die einem die Eltern so nicht unbedingt beigebracht haben und die so ziemlich jeder religiösen oder humanistischen Einstellung widersprechen. Also gilt es erstmal, die „Gutmenschen“ als komplette Vollidioten darzustellen. Im Geiste Arnold Gehlens, dem der Göttinger Historiker Christian Graf von Krockow einmal attestiert hat, „in seinem Werk eine, nein: die faschistische Theorie entworfen und vollendet“ zu haben, mit diesem Arnold Gehlen gilt es, permanent gegen „Moral und Hypermoral“ anzuschreiben. Sie werden sehen, sie finden diese Kritik überall.
DIE KONSERVATIVEN AUFS KORN NEHMEN:
Rechtsradikale wissen, dass sie ohne Brückenbauer ins sogenannte bürgerliche Lager niemals an die Macht kommen werden. Kann man so auch sehr schön bei Ziblatt/Levitsky („Wie Demokratien sterben“, 2018) nachlesen. Also redet man der Mitterechtspartei permanent ein, viel zu weit nach links gerückt zu sein, und appelliert somit an deren schlechtes Gewissen. Da man in diesem Spektrum sich nicht den ganzen Tag mit Parteigeschichte beschäftigt, weiß man oft gar nicht, dass man NIE völkisch-national war und dass das ganze Gerede von einem Zurück zu einem imaginierten Zustand, in dem man nach schön stramm rechts war, eben eine reine Verbaahornung ist. Allerdings eine ziemlich erfolgreiche …
DIE „TRADITIONELLEN“ MEDIEN KAPUTT MACHEN, VOR ALLEM DEN ÖFFENTLICH-RECHTLICHEN RUNDFUNK:
Rechtsradikale wissen: Eine vitale Presselandschaft stört ungemein bei der eigenen Propaganda. Also muss man erstmal alles dafür tun, um den Leuten „die Medien“ madig zu machen. Dass es in der Tat einiges an „den Medien“ zu kritisieren gibt, hilft natürlich ungemein. Man muss die Kritik dann nur bis ins Groteske überziehen und die eigene „Wahrheit“ über Blogs und eigene Publikationen und über Internetkanäle ans geneigte Publikum bringen. Sie werden sehen: Da gibt es viele Leute, die halten jedes Youtube-Video für glaubwürdiger als die aufwendige Investigativrecherche im Auftrag eines sogenannten Qualitätsmediums. Weil es besser ins eigene Weltbild passt. Insbesondere muss natürlich der ÖRR weg. Italien und die USA haben gezeigt, was dann für tolle Dinge möglich sind. So muss das unbedingt auch hier in Deutschland sein. Besonders lustig ist es, über die Theo Kolls und die Alexander Kählers und die Markus Lanzens dieser Welt permanent zu behaupten, sie seien ach so linksgrün-versifft, nur weil mal ein paar Praktikant:innen in einer schlecht gemachten Umfrage sich diffus als links gezeigt haben. Das ist zwar alles komplett abwegig, aber trifft auf fruchtbaren Boden. Denn woran kann es sonst liegen, dass die nicht so berichten, wie man es sich Rechtsaußen doch so sehr wünscht?
SICHER HINTER DER MONSTRÖSITÄT DES HOLOCAUST VERSTECKEN:
Die Singularität des Holocaust lässt alle Vorformen des Rechtsradikalismus im Vergleich harmlos wirken. Will man denn wirklich ein wenig Schleifen des Rechtsstaats, ein bisschen Medienkontrolle und Manipulation der Justiz mit diesem Menschheitsverbrechen vergleichen, gar „gleichsetzen“, wie oft reflexartig erwidert wird? Relativiert man da nicht die Verbrechen und beleidigt die Opfer? Und überhaupt: Ist denn jeder, der sich kritisch zur Migration äußert, gleich ein Nazi? Natürlich nicht, aber der Clou ist, immer wieder zu behaupten, dass sofort jeder „in die rechte Ecke gestellt“ wird, der sich entsprechend äußert. Sie werden lachen. Die „Altparteien“ und ihre schlafschafenden Anhänger:innen (kleiner Scherz) werden sich so lange an Ihnen abarbeiten, sich quasi zu Tode differenzieren, dass sie gar nicht merken werden, wie sie die ganze Zeit quasi ihr Geschäft besorgen.
Um am Ende zur Wiederwahl Trumps zurückzukommen – Zürn schreibt: „Vieles spricht dafür, dass dieser Erfolg das Ergebnis einer gewollten politischen Strategie und nicht die Folge von Inkompetenz ist.“
Nun gibt es gerade hierzulande sehr viele, die da meinen, man können diesem gezielten Angriff, dieser beschriebenen Strategie mit „guter Politik“ begegnen. „Die Politik“ müsse endlich die Probleme „lösen“.
Dazu kann ich sagen, was „gute“ Politik ist, liegt immer im Auge des Betrachters. Und politische Probleme können überhaupt gar nicht „gelöst“ werden. Es können im Rahmen einer pluralistischen Ordnung lediglich ewige Spannungsverhältnisse immer neu austariert werden. Das Pendel der deutschen Regierungspolitik ist längst nach rechts gewandert. Der Trick besteht lediglich darin, dies alles so lange zu negieren oder kleinzureden, bis die Leute zum Schluss endlich jemanden wählen, der „die Lösung“ im Angebot hat. Und die wird in jedem Fall nicht schön werden.
————————————————————————————————————————————

Agenda21Senden (Bernd Lieneweg, BI Demokratie und Vielfalt)

Demokratie ist nicht einfach. Sie hält sich nicht von alleine. Sie muss immer aktiv am Leben erhalten und gestaltet werden.

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht.