Süddeutsche Zeitung/Feuilleton
Donnerstag, 29. September 2022 Artikel 1/14
Der Krieg und die Friedensbewegung – Lob des Pazifismus
Der Krieg tobt in Europa – und wir brauchen eine neue Friedensbewegung dringender
denn je.
Von Nele Pollatschek
Wehrhafter Pazifismus? Die verstorbene Grünen-Mitgründerin Petra Kelly schaut
skeptisch. Im Krieg stirbt zuerst der Pazifismus. Männer, die vor Kurzem den Dienst verweigerten, kennen plötzlich Panzergattungen. In der Partei, die eben noch ohne Waffen Frieden schaffen wollte und sich vor allem deshalb einst gründete, spricht man jetzt von
„wehrhaftem Pazifismus“. Berufslinke, die sonst eher Irokesen als Tarnanzug tragen,
sehen nichts dabei, Wörter wie „Lumpenpazifismus“ zu benutzen.
Das lässt sich leicht erklären. Kein anständiger Mensch will Krieg. Krieg ist, wie Annalena
Baerbock zu Beginn des russischen Angriffs kindgerecht sagte und jeder längst wusste,
„das Allerschlimmste, was passieren kann“. Wenn sich Menschen trotzdem an einem
Krieg beteiligen, dann weil sie keine andere Wahl sehen. Weil sie angegriffen werden, und
das Einzige, was schlimmer ist, als sich mit Waffen zu verteidigen, wäre jetzt, sich nicht zu
verteidigen. Wer, wie zum Beispiel die Grünen, bereit ist, dabei mitzuhelfen, dass
zwangsrekrutierte, russische Teenager erschossen werden, der tut etwas, das moralisch
so schwer zu ertragen ist, dass er vollkommen überzeugt sein muss, dass die Alternative
jenseits des moralisch auch nur Diskutablen liegt.
Pazifisten stehen für diese Alternative. Pazifisten müssen hinnehmen, dass Menschen ermordet werden, um selber nicht zu morden.
Das Problem ist nun: Nicht mal unanständige Menschen wollen Krieg. Machthaber wollen
Ressourcen oder Macht oder Landgewinn, sie nehmen den Krieg vielleicht sogar gerne in
Kauf, aber die, die den Krieg führen, Soldaten und ihre Helfer, wollen den Krieg in der
Regel nicht. In der Geschichte der Menschheit lässt sich kaum ein Krieg finden, der von
denen, die ihn führten, als „Angriffskrieg“ verstanden wurde. Im Narrativ Putins verteidigt sich Russland gegen die Nato und ukrainische Nazi-Aggressoren. Amerika führte gegen
den Irak einen Präventionskrieg – also eine Verteidigung gegen einen Angriff, der lediglich
noch nicht stattgefunden hatte. Sogar Hitler hat ab 5.45 Uhr bekanntlich nur
„zurückgeschossen“.
Hermann Göring erklärte 1946 einem amerikanischen Gerichtspsychologen: „Das Volk will
keinen Krieg.“ Um es sogar in einer Demokratie trotzdem dazu zu bringen, brauche man,
so Göring, „nichts zu tun, als dem Volk zu sagen, es würde angegriffen, und den Pazifisten
ihren Mangel an Patriotismus vorzuwerfen und zu behaupten, sie brächten das Land in
Gefahr“.
Pazifisten wissen, dass jeder, der freiwillig in den Krieg zieht, denkt, er kämpfe für das
Gute und gegen das Böse. Und er denkt es auch dann, wenn er dabei ein Z auf der Brust
trägt oder zwei S. Pazifisten wissen, dass im Krieg, ganz kurz nach dem Pazifismus, die
Wahrheit stirbt. Und zwar überall – auch die Alliierten hatten Propagandaabteilungen, auch
sie logen, dass sich die Balken bogen. Pazifisten denken: Wenn Deutsche, Amerikaner
und Russen verführbar waren, wieso sollte man mich nicht auch verführen können?
Pazifisten müssen hinnehmen, dass unschuldige Menschen ermordet werden, damit sie
sich absolut sicher sein können, dass sie selbst niemals Unschuldige ermorden.
Pazifismus widerspricht dem Instinkt, sich zu verteidigen, und dem
Bedürfnis zu helfen
Auch wenn er in sich vollkommen logisch ist: Für die meisten Menschen ist Pazifismus
nichts. Er widerspricht dem Instinkt, sich zu verteidigen. Und dem Bedürfnis zu helfen, wo
andere angegriffen werden. Die meisten Menschen wollen keine Pazifisten sein, da sie um
den Preis wissen.
So lässt sich auch das Oxymoron des „wehrhaften Pazifismus“ begreifen. Pazifismus ist
eben eines genau nicht: wehrhaft. Da aber jeder Krieg immer als Verteidigungskrieg
verstanden wird, da niemand jemals Krieg will, gibt es in Wahrheit eben nur Pazifismus
(niemals kämpfen, unter keinen Umständen) und den Rest (man könnte es Bellizismus
nennen, wenn die Bellizisten dann nicht immer gleich beleidigt wären, schließlich wollen
sie ja eigentlich keinen Krieg). Natürlich kann man sagen, dass „Pazifismus nur auf der
humanitären Theorie basieren kann, dass jede Nation ein Recht auf Leben haben muss“.
Aber das ist eben kein Pazifismus, sondern ein Hitlerzitat. „Wehrhafter Pazifismus“ ist der
Versuch, gleichzeitig den Pazifismus zu haben und den Krieg trotzdem zu essen.
Das funktioniert nur nicht. Weil der, der für die Beteiligung an einem Krieg ist, nicht
gleichzeitig dagegen sein kann. Ein Interessenkonflikt, den wir überall sonst sofort
verstehen. Polizisten sind nicht gleichzeitig Richter und Vollstrecker. Und der Kläger
übernimmt selten die Verteidigung.
Deswegen braucht es Pazifisten genau dann, wenn fast alle sich für massive
Waffenlieferungen aussprechen. Gerade weil man sich an einem Krieg beteiligt, braucht
man Menschen, die sich niemals an einem Krieg beteiligen würden. Man muss die
Argumente gegen Krieg genau dann hören, wenn man sie am wenigsten hören will.