75 Jahre Grundgesetz – Beitrag der Sendener GRÜNEN zum Festakt

75 Jahre Grundgesetz (Zitat website GRÜNE in Senden vom 26.5.2024)

Zum 75. Jahrestag unseres Grundgesetztes hat die Sendener Bürgerinitiative für Demokratie und Vielfalt am 26.05.24 ein Picknick für alle Bürgerinnen und Bürger Sendens auf dem Rathausplatz in Senden veranstaltet. Die friedliche und gemütliche Atmosphäre dieses phantasievollen Festes, die anregenden Gespräche der Teilnehmer und die ansprechenden Reden zu verschiedenen Artikeln des Grundgesetzes schafften Zuversicht bei all den gefährlichen Angriffen auf unsere Verfassung und der zunehmenden Radikalisierung unserer Gesellschaft. Eine wehrhafte Demokratie lebt vom Engagement jedes Einzelnen und vom friedlichen Miteinander bei solchen Gelegenheiten.

Vor den etwa 100 Besuchern hat unser Mitglied im Ortsverband Senden, Thomas Krüger, in seinem Vortrag einige aktuelle Gedanken und wertvolle Impulse zum Artikel 4 des Grundgesetztes beigetragen. Zuvor behandelten weitere Beiträge von Bernd Lieneweg, Sprecher der Bürgerinitiative, sowie Rednern der Jungen Union und der SPD Senden die Artikel 1-3 des Grundgesetzes. Die Besucher haben den eindringlichen Reden zu unseren Grundrechten aufmerksam gelauscht und applaudiert.

Die vollständige Rede unseres Mitglieds Thomas Krüger finden Sie hier:

Liebe Mitbürgerinnen und Mitbürger in Senden,
Ich habe mir vorgenommen heute zum Gedenken an den 75. Jahrestag unseres Grundgesetzes über den Artikel 4 zu sprechen. Dieser Artikel bereitet vielen Menschen zunehmend Schwierigkeiten und er birgt ja auch einigen Sprengstoff in sich! Daher wird er in der öffentlichen Debatte auch gerne mal umschifft. Er behandelt, wie Sie sicher wissen, dieReligions- und Glaubensfreiheit. Das ist nun tatsächlich ein schwieriges Thema! Besonders in der aktuell so aufgeheizten Stimmung sich verschärfender religiöser Auseinandersetzungen! Ich möchte mich heute dennoch dieser Herausforderung stellen und meine Gedanken dazu formulieren. Lassen Sie uns also ein paar Minuten der Frage nachgehen, warum gerade dieser Artikel so besonders grundlegend für unsere Verfassung ist!
Wenn wir genauer hinschauen, hat dieser Artikel ja zwei unterschiedliche Zielrichtungen. Zuallererst geht es hier offensichtlich um das Grundrecht auf freie Religionsausübung. Der Staat darf keinerlei Einfluss nehmen auf persönliche Glaubenseinstellungen des Einzelnen und er schützt Andersgläubige vor Verfolgung wegen ihres Glaubens. Um es einmal klipp und klar zu sagen: Jeder darf in Deutschland glauben, was er will, und seinem Glauben gemäß leben, solange er die anderen Grundrechte damit nicht verletzt! Das ist ein durch die Verfassung geschütztes Recht! Da kann einem niemand reinreden! Das gilt für mich als bekennenden Christen genauso wie für Menschen aller anderen Religionsgemeinschaften!
Ehrlich gesagt sind vor diesem Hintergrund die Forderung nach einer Leitkultur und die Frage, ob der Islam zu Deutschland gehört, nach meiner Auffassung eher bedenklich und setzen ein falsches Signal! Die Verfassung regelt das doch unmissverständlich!
Auf der anderen Seite schützt dieser Artikel die Gesellschaft gleichzeitig auch davor, dass eine Mehrheitsreligion das staatliche Handeln kontrolliert. Es gibt eben glücklicherweise in Deutschland keine Staatsreligion! Konkret wird das in späteren Artikeln des Grundgesetzes noch weiter ausgeführt (Anm.: Art. 140 mit Verweis auf die Weimarer Verfassung).

Wohin es führt, wenn autokratische Herrscher die Religion zur Legitimation einer extremistischen Ideologie oder ihrer persönlichen Macht missbrauchen, sehen wir doch aktuell überall auf der Welt und in der Geschichte der Religionen sowieso. Gottesstaaten und Glaubenskriege, gelenkt und geführt von religiösen Fanatikern, sind immer schon maßgeblich verantwortlich für unerbittliche Verfolgung, grausame Unterdrückung und unsägliches Leid. Auch das muss also klipp und klar gesagt werden: Eine religiöse Ideologie, wie der politische Islamismus, der eine absolute Staatsform und ein religiöses Rechtssystem mit Gewalt durchsetzen will, steht natürlich in einem krassen Widerspruch zu unserem Grundgesetz.
Die Trennung von Staat und Kirche ist also ein wesentliches Merkmal unserer freiheitlichen Demokratie! Ja, sie ist vor dem Hintergrund eines religiösen Extremismus eigentlich sogar der Garant für die Gültigkeit der übrigen universalen Menschenrechte.
Wenn Sie mir erlauben, möchte ich den Blick für die Bedeutung dieses Grundsatzes noch ein wenig schärfen. Denn: In diesem Spannungsfeld von Staat und Religion schafft das Grundgesetz sich selbst auch einen Angriffspunkt, der mir in letzter Zeit zunehmend Sorgen macht!
Unter dem Deckmantel der Religionsfreiheit können nämlich auch religiöse Bewegungen entstehen und wachsen, die unsere freiheitliche Demokratie verachten. Bewegungen, die die Trennung von Staat und Religion aushöhlen und unterwandern wollen, oft mit wissenschaftsfeindlicher und wirklichkeitsferner Haltung aber mit Verweis auf Religions-
und Meinungsfreiheit!
Es liegt nahe, jetzt gleich wieder an den Islamismus und die Forderungen nach einem Kalifat zu denken, aber ich möchte Ihren Blick stattdessen eher in die USA lenken. Dort ist eine andere besorgniserregende Entwicklung schon weit fortgeschritten und hat inzwischen zu einem erbitterten Kulturkampf geführt! Donald Trump gründet dort nämlich seine autokratischen Machtfantasien vor allem auf die unerschütterliche Unterstützung evangelikaler und fundamentalistischer Christen. Zunehmend werden hart erkämpfte Rechte und Freiheiten gemäß religiösen Vorstellungen wieder eingeschränkt! Es entsteht eine neue Symbiose aus Macht und Religion, die gefährlich ist für die Freiheit der Menschen. Genauso läuft es auch in Russland, Ungarn oder der Türkei.
Und wenn Sie nun denken: Amerika und all das ist ja weit weg und das kann doch hier bei uns gar nicht passieren, dann kann ich Ihnen versichern: Während wir hier noch unser Grundgesetzt feiern, fischt die AfD schon in den trüben Gewässern der fundamentalistischen Kreise und wandert gemeinsam mit Abtreibungsgegnern und Kirchenvertretern
auf dem Marsch fürs Leben!
Mir hat kürzlich jemand aus diesem Umfeld, ein junger Theologiestudent, gesagt: „Mir ist ja eigentlich egal, von wem wir regiert werden, egal ob Demokrat oder Diktator; Hauptsache, er ist Christ!“ Nein, sage ich! Das ist nicht egal! Hauptsache er steht auf dem Boden unserer Verfassung! Das ist entscheidend für unsere freiheitliche Gesellschaft und die Demokratie! Das ist in Amerika mit dem Sturm auf das Kapitol schon ins Wanken geraten und droht dort endgültig zur kippen!

Religionsfreiheit ist immer und zuallererst die Freiheit der Andersgläubigen. Daran muss sich unsere Verfassungstreue  und unser Handeln als deutsche Staatsbürger messen lassen. Und gleichzeitig: Religionsfreiheit – auch für die Mehrheitsreligion – kann immer nur insoweit gewährt werden, wie sie die übrigen Grundrechte nicht verletzt. Die Menschenrechte sind unteilbar! Die Trennung von Staat und Kirche ist grundlegend für unsere Demokratie!
Die Kirchen haben sich glücklicherweise in den vergangenen Monaten von solchen radikalen und extremistischen Ideologien deutlich distanziert und die Menschenrechte und die christlichen Werte als wesentliches Merkmal kirchlichen Handelns bestätigt. Damit sind aber solche fundamentalistischen Strömungen nicht einfach verschwunden.
Bleiben wir also wachsam! Lassen Sie uns nicht vergessen, welch große Errungenschaften unsere Verfassung und insbesondere die Religionsfreiheit eigentlich sind, selbst wenn man mit Religion und Kirche nicht viel anfangen kann!
Halten wir uns fern von religiösem Fanatismus gleich welcher Religion! Lassen wir aber auch gläubigen Menschen gleich welcher Religion die Freiheit, die das Grundgesetz ihnen zusichert, wenn sie die Verfassung achten und die Trennung von Staat und Religion anerkennen.

Daher möchte ich schließen mit einem Aufruf, der zwar von den radikalen Rechten inzwischen zu einem Schimpfwort umfunktioniert wurde, der aber genau das ausdrückt, worum es bei der Bewahrung der Grundrechte nun einmal geht: „Stay woke!“ Bleiben Sie wachsam!
Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit!

gez. Thomas Krüger

 

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