An den Bürgermeister und den Rat der Gemeinde Senden
In Beantwortung Ihres Schreibens (Hr. Gilleßen im Auftrag, Wortlaut s. ganz unten) an die Agenda21Senden vom 24.10.2014:
Sehr geehrter Herr Holz, sehr geehrte Vertreterinnen und Vertreter des Gemeinderates Senden,
wir forderten Sie mit unserem Schreiben (als Bürgerinnen und Bürger der NGO Agenda 21 Senden) vom 11. September d. J. dazu auf, sich als Rat der Gemeinde Senden eingehend mit dem sowohl für Bürgerinnen und Bürger als auch für Kommunen, Städte und Gemeinden für unsere Demokratie vital wichtigen Themenkomplex hinsichtlich der auf EU Ebene geplanten Freihandelsabkommen (TTIP, TiSa und CETA) auseinander zu setzen. Ferner regten wir dringlichst an, die Bundesregierung aufzufordern, sich gegen die transatlantischen Freihandelsabkommen zwischen der EU, Kanada sowie den USA auszusprechen und die Verträge abzulehnen, und begründeten dies wie bereits vorgelegt und ergänzen präzisierend:
– Die in den Freihandelsabkommen (TTIP[1], CETA[2] u. TiSA[3]) vorgesehenen Schieds-gerichtsverfahren im Rahmen der Investitionsschutzklauseln höhlen die Demokratie und den Rechtsstaat aus, da durch sie der Spielraum demokratischer Entscheidungen (auch auf kommunaler sowie Städte- und Gemeindeebene) auf Beschlüsse eingeengt wird, die die Renditen der Wirtschaft aus Sicht der Investoren nicht schmälern, denn sonst drohen hohe Schadenersatz-Klagen, wie bereits geschehen:
Der Begriff der geschützten „Eigentumsrechte“ sei in Abkommen wie dem TTIP sehr weit gefasst, sagt Peter Fuchs (Handelsexperte der Organisation PowerShift) gegenüber der ZEIT am 6. März 2014[4]: „Das kann zum Beispiel die Explorationsgenehmigung für ein Gasfeld sein.“ Verliere die Lizenz an Wert, etwa weil ein Staat Fracking verbiete oder die Regeln für die Förderung verschärfe, könne der Investor klagen. Selbst eine Verschlechterung der Gewinnaussichten reiche für eine Klage schon aus. „Mit den Konzern-Klage-Rechten im TTIP wollen Energiekonzerne wie Chevron (aber auch Exxon Mobile, Shell u.a.) durch die Hintertür ihre dreckigen Fracking-Projekte in Europa durchsetzen“,… Fuchs vergleicht die geplanten Sonderklagerechte für Investoren mit „scharfen Waffen, mit denen Konzerne vorbei an ordentlichen Gerichten demokratische Entscheidungen zum Schutz von Mensch und Umwelt angreifen können.“ Ein in Deutschland bekanntes Beispiel einer solchen Klage ist der Fall Vattenfall gegen die Bundesrepublik Deutschland. Durch den Atomausstieg sah der schwedische Energiekonzern seine Eigentumsrechte schwer verletzt. Er fordert nun 3,7 Milliarden Euro als Entschädigung. Der Tabakkonzern Philip Morris verklagte Uruguay auf die Summe von zwei Milliarden Dollar, als das Land Gesundheitswarnhinweise auf Zigarettenpackungen einführte. Und der kanadische Rohstoffkonzern Lone Pine fordert über eine Tochterfirma in den USA 250 Millionen von Kanada, weil die Provinz Québec ein Fracking-Moratorium erlassen hat. Grundlage dieses Verfahrens sind die Investitionsschutzklauseln des Nordamerikanischen Freihandelsabkommens (NAFTA). Solche Klauseln stellen das Konzerninteresse über demokratisch erlassene Gesetze und das Gemeinwohl, sagen die Kritiker. Denn über die Fälle entscheiden geheim tagende Schiedsgerichte. Ihre Urteilssprüche stehen über nationalem Recht. „Schon die bloße Androhung einer Klage kann ausreichen, ein Gesetz im Keim zu ersticken“, sagt Pia Eberhardt, Expertin für Handelspolitik der konzernkritischen Organisation Corporate Europe Observatory CEO. „Das zeigt, dass Investor-Staat-Klagen eine große Gefahr für unsere Demokratie sind.“ Der Fall Lone Pine belege die resultierenden Schäden für Umwelt- und Gesundheitsschutz.
– Die Vertragswerke stehen nicht im Einklang mit unserer Verfassung, denn die vorgesehenen Schiedsgerichts-Verfahren sind nicht mit unserem Rechtssystem vereinbar. Schiedsgerichte sind keine ordentlichen Gerichte und erfüllen keine Kriterien unseres Rechtssystems wie Transparenz, Öffentlichkeit, Überprüfbarkeit der Entscheidung etc.. Die Entscheidungen der Schiedsgerichte sind bindend, obwohl sie nur ein mit privatwirtschaftlich agierenden Rechtsanwälten besetztes Gremium sind.
– Die Schiedsgerichtsverfahren stehen über unserem Rechts-System und hebeln hiermit die subsidiäre Struktur unseres Staates aus bis hinunter zu den Kommunen, wo die Ratsmitglieder nicht mehr Herr im eigenen Hause sein werden.
– Die kommunale Daseinsvorsorge wie z.B. Wasserversorgung, Abwasser, Rettungsstationen, Altenheime, Krankenhäuser, ÖPNV, Volkshochschulen u.v.a.m. werden damit unter den Vorbehalt der Zustimmung von Investoren gestellt, während der demokratische Mitgestaltungsspielraum der Bevölkerung auf ein Minimum beschränkt bleibt oder ganz außen vor ist. Außerdem könnten auch regionale Besonderheiten dabei unter die Räder kommen.
– Über die bisher erteilten Aufsuchungsgenehmigungen und die schon früher durchgeführten Probebohrungen könnten die Energiekonzerne das umstrittene Fracking – auch im Münsterland (Exxon Mobile wurden hier Probebohrungen bereits genehmigt) – durchdrücken oder immense Schadensersatz-Forderungen für die bisher getätigten Investitionen und vor allem den entgangenen Gewinn an die Landes- bzw. Bundesregierung stellen.
- Der Gestaltungsspielraum der Politik wird generell eingeengt, da bei künftigen Gesetzen oder Verordnungen, die irgendwie Auswirkungen auf die Tätigkeit der Investoren haben, vorab die Zustimmung der beiden Vertragspartner bzw. einer von ihnen ernannten Kommission eingeholt werden müssen. Ansonsten können auch hier hohe Schadensersatzforderungen fällig werden.
- Zudem haben wir z. B. die Enttäuschungen über regionale Politiker als Mitglieder des Deutschen Bundestages [(Hampel (SPD) und Schiewerling (CDU)] des Leserbriefschreibers Reinhard Loewert aus Lüdinghausen in der WN vom 15.10.2014 zum TTIP-Thema Dies bestätigt beispielhaft unsere Wahrnehmung der Uninformiertheit bzw. Insensibilität unserer Volksvertreter für die potenziell risikoreichen Auswirkungen der Freihandelsabkommen auf die Demokratie!
- Zudem konnten wir am 23.10.2014 von Frau Professorin Dr. Mechthild Schrooten (Wirtschaftswissenschaftlerin zur transnationalen Wirtschaftsforschung) zum Thema: TTIP und Mittelstand hier in Senden vor rd. 170 Zuhörern in der Steverhalle unter anderem erfahren, dass…
- für sämtliche Aussenhandelsfragen die nationalstaatlichen Mandate der EU-Länder in Brüssel abgegeben wurden,
- Freihandel nur das Gewand für Standardanerkennungen (welche relativ wenig Einsparpotenzial beinhalten und im Gesamt der Transaktionskosten unter gehen) und Investorenschutz (der ist zentral und für gut gewachsene ordentliche Handelsräume fragwürdig zugleich) ist, dass es bereits genügend Freihandel gibt,
- jene Freihandelsabkommen für transinternationale Großkonzerne kreiert wurden und unser Mittelstand bei deutschem Alleinstellungsmerkmal nur sehr marginal im internationalen Export unterwegs ist und unter jenen Regelungen zu den Verlierern zählen würde, da der Wettbewerb auf innerdeutschen Märkten härter werden und der Mittelstand überdehnt werden würde,
- solch ein Freihandelsabkommens-Experiment – insbesondere in Zeiten noch nicht überwundener Krise aus 2008 in den betroffenen Handelsgroßräumen – hoch riskant ist (die Staatsverschuldungen der Länder sprengen jede Vorstellungskraft),
- bei weiterem Optimierungsbestreben (z. B. nach Vollautomatisierungen) keine weiteren Arbeitsplätze dadurch geschaffen werden,
- es ein Novum ist, dass Unternehmungen bereits jetzt gegen Staaten klagen (s. o. auch am Beispiel des schwedischen Energieunternehmen Vattenfall gegen Deutschland),
- es ein Novum ist, dass Renditeerwartungen transnationaler Konzerne mit Investorenschutz auf Ebene von im Freihandelsabkommen implementierten Schiedsgerichten – an demokratisch-grundrechtlichen Basisbedingungen vorbei – abgesichert werden,
- die Politik im Großen und Ganzen immer wirtschaftsfreundlicher zu Lasten der Bürgerinnen und Bürger wird (das Kapital bestimmt zunehmend, was wann und wie investiert wird),
- diese Verhandlungen auf einer Ebene von intransparenter „Blackbox“ vorbei an Bürgerinnen und Bürgern der betroffenen sozialen Wirtschaftsräume laufen,
- Staaten, Städte und Kommunen immer mehr politische Gestaltungsmacht an selbst eingesetzte und sich dann verselbstständigende Verwaltungen abgeben.
Auch der Kreistag des Kreises Coesfeld sieht durch TTIP (Transatlantic Trade and Investment Partnership) die Standards der kommunalen Selbstverwaltung und Daseinsvorsorge gefährdet. Das gemeinsame Positionspapier der kommunalen Spitzenverbände vom Oktober 2014 stellt fest:
- dass die bisherigen Verhandlungen weitgehend unter Ausschluss der Öffentlichkeit geführt wurden und diese Intransparenz das Misstrauen in die Verhandlungsführung der EU-Kommission erhöht hat und die demokratischen Spielregeln untergräbt.
- dass das Abkommen nach derzeitigem Kenntnisstand geeignet ist, die bisherige Form kommunaler Daseinsvorsorge und das Subsidiaritätsprinzip zu gefährden.
- dass daher die kommunale Daseinsvorsorge, darunter insbesondere die nicht liberalisierten Bereiche – wie die öffentliche Wasserver- und Abwasserentsorgung, die Bereiche Abfall und ÖPNV, soziale Dienstleistungen sowie alle Leistungen der öffentlichen Daseinsvorsorge im Kulturbereich – von dem Handelsabkommen explizit ausgeschlossen werden sollen.
- dass die wirtschaftliche Betätigung von Kommunen im Bereich der Daseinsvorsorge und der Infrastruktur nicht gefährdet werden darf und die Spielräume für eine Auftragsvergabe nach sozialen, ökologischen oder regionalen Kriterien nicht enger werden sollen.
- dass die Umwelt- und Sozialstandards in der EU nicht gefährdet werden dürfen.
Der Kreistag unterstützt daher die Position der kommunalen Spitzenverbände und fordert die Landes- und Bundestagsabgeordneten sowie die regional zuständigen Europaabgeordneten auf, sich entsprechend auf der jeweiligen politischen Ebene zu verwenden.
Sehr geehrte Vertreterinnen und Vertreter des Gemeinderates Senden, es dürfte aus unserer ausführlicheren Stellungnahme deutlich werden, das dieses für unsere Demokratie so vitale Thema nicht Sache des Haupt- und Finanzausschusses, sondern des gesamten Gemeinderates ist, und bitten Sie nunmehr erneut und nachdrücklich, dieses Thema intensiv und in Gänze zu diskutieren und eine konstruktive Position zu finden, welche wir als Bürgerinnen und Bürger in solch einer gewichtigen und alle betreffenden Angelegenheit auch erwarten dürfen.
Mit freundlichen Grüßen,
Agenda21Senden, Bernd Lieneweg, Sprecher
[1] Transatlantic Trade and Investment Partnership
[2] Comprehensive Economic and Trade Agreement
[3] Trade in Services Agreement
Es wäre Aufgabe und auch zugestimmte Verantwortung der Politik in Gänze auf Kommunaler und Bundesebene sich diese Sachverhalte genauer anzusehen und im Interesse Ihrer Bürger zu handeln anstatt sich der Verantwortung zu entziehen.